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Die Sektstadt und der Schrat (Freyburg)

Freyburg, Jahn-Museum (und Bergfried der Neuenburg im Hintergrund)

Der Autoverkehr in Freyburg (Sachsen-Anhalt) besitzt rassig-spritzigen Charakter. An der Kreuzung der Schloßstraße und der Brückenstraße über die Unstrut kann es zumindest an schönen Tagen vorkommen, dass Touristen, die z.B. gerne Thüringer Bratwürste verzehrend gemütlich durch die hübschen Gassen schlendern, und einheimische Autofahrer, die in den Straßen ihrer Stadt halt gerne durchziehen, aneinander geraten. Touristen sind eine Menge unterwegs, und manche haben schon etwas Wein genossen.

Freyburg, Neuenburg auf Weinberg

Eigentlich wird rassig-spritziger Charakter eher dem Wein und Sekt der Stadt und des Saale-Unstrut-Gebiets zugeschrieben. Kellereien, darunter eine der bekanntesten deutschen überhaupt, unterbreiten allerhand Angebote für Reisen ins „nördlichste europäische Anbaugebiet von Qualitätsweinen“, dessen Weine „jung getrunken werden“ wollen. Freyburg nennt sich „Wein-, Sekt- und Jahn-Stadt“.

Das Jahn- bezieht sich auf den sog. Turnvater, der als Namensgeber für Straßen in Deutschland ja in der Goethe-Liga spielt, zumindest wenn man auch Sportstätten mitzählt (auch ich jogge manchmal in einem Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark …). Ihm gilt in Freyburg ein Museum. Es belegt, dass er eine Gestalt war, über die sich immer noch streiten ließe und in einigen Nischen auch noch gestritten wird.

Freyburg, Ur-Pferd (Turngerät) im Jahn-Museum

Bekannt ist Jahn vor allem dafür, einst auf der Hasenheide, also im heutigen Berlin-Kreuzberg, das einerseits wehrsportliche bis paramilitärische, andererseits demokratische Turnen populär gemacht zu haben. Den Dauerlauf, das heutige Joggen, inklusive. Außerdem gilt er und galt schon zu seiner Zeit als „Franzosenfresser“. Das ist im Rückblick natürlich nicht sympathisch, aber in einer Zeit, in der weite Teile Deutschlands von einem französischen Kaiserreich annektiert gewesen waren, das zwar den fortschrittlichen Code Napoleon gebracht, aber auch sehr viele deutsche Soldaten eingezogen hatte, um zwischen Spanien und Russland Kriege zu führen, nicht unnachvollziehbar. Jahn selbst soll seinerzeit bei diesem Vorwurf drauf hingewiesen, dass sein französischer Freund Lortet sein bekanntestes und heute umstrittenstes Buch „Volksthum“ ins Französische übersetzt habe. Das schreiben zumindest Jahn-Apologeten.

Freyburg, Jahn-Gemälde des Malers F.L. Heine im Jahn-Museum

Überdies galt und gilt Jahn als Nationalist (allerdings in einer Zeit, in der Nationalstaaten mit Verfassungen noch eine demokratische Vision gewesen waren und von absolutistischen Monarchen verfolgt wurden), und Antisemit. Léon Poliakov hat ihn als „großen Apostel des deutsch-christlichen Rassismus“ bezeichnet, weiß eine scharfe Jahnmuseums-Kritik von links aus dem Jahre 2009. Welche antisemitischen Originalzitate Jahn tatsächlich zugeschrieben werden können, ist allerdings in der Wikipedia und auf der Diskussions-Seite ebd. umstritten. „Juden konnten in der Turnbewegung mitwirken und haben das getan“, heißt es in einem 1992 erschienenen biografischen Büchlein des Muster-Schmidt-Verlags, das nirgends mehr erhältlich ist – außer an der Kasse des Freyburger Jahn-Museums. Im Brennpunkt öffentlichen Interesses steht der Turnvater aktuell also nicht mehr.

Freyburg, zeitgenössische Jahn-Karikatur im Jahn-Museum

Frappierend ist jedenfalls, und das zeigt das Museum ganz gut, dass Jahn in allen politischen Systemen geschätzt bis gefeiert wurde: in der Gegenwart, in der mit dem Deutschen Turner-Bund ein mitgliederstarker, große Worte (dtb-online.de: „einer der größten Deutschen“) bemühender Verein hinter der Jahn-Gesellschaft steht, die übrigens auch online enorm umfangreiches Schriftmaterial bereit hält. Und zuvor außer in der BRD auch in der DDR (als das Museum einem „Burschenturner im Kampf um Einheit und Freiheit“ galt und erhalten blieb). Und noch davor in der Nazizeit (als anlässlich der Olympischen Spiele von 1936 Jahns altes Wohnhaus zum Museum umgemünzt wurde und er selbst, also sein Leichnam in den Garten des Hauses umgebettet wurde). Und schon im späten Kaiserreich galt er viel. Damals wurden ihm in Freyburg gleich zwei Turn- und/ oder Ehrenhallen im Pathos-Jugendstil erbaut, die noch heute irritieren. Die beinahe einzige Zeitspanne überhaupt, in der Jahn lange Zeit weniger geschätzt wurde, war – dumm für ihn – seine Lebzeit.

Freyburg, Jahn-Tradition der DDR (Jahn-Museum)

Zwar hatte er während der Befreiungskriege, also der antinapoleonischen Kriege rund um die Völkerschlacht von Leipzig, einen steilen Aufstieg erlebt. Doch der endete mit der unmittelbar anschließenden Restauration, als Demokraten und Nationalstaat eben als Gefährdung der wieder etablierten Königs- und Fürstenherrschaft galten. Das geradezu gruselige Porträt des Malers F.L. Heine, auf dem Jahn wie ein finsterer Schrat erscheint, hängt ebenfalls im Freyburger Museum. Es entstand, erfährt man, als Jahn im Zuge der „Demagogenverfolgung“ ab 1819 in preußischer Haft saß. Das gerade populär gewordene Turnen wurde über Jahrzehnte verboten (bis der preußische König gestorben war und der folgende Friedrich Wilhelm, der IV. nach dem III., anders entschied; Monarchenlaunen waren oft ausschlaggebend…).  Jahn wurde, teilweise in Ketten, in Haft gehalten, während zwei seiner Kinder starben, und durfte nicht an der Beerdigung seiner Frau teilnehmen. Und das obwohl E.T.A. Hoffmann, der große Schriftsteller, der seinen Lebensunterhalt als preußischer Kammergerichtsrat verdienen musste, ausdrücklich anders geurteilt hatte.

Freyburg, kaiserzeitlicher Protz-Jugendstil zu Turnvater Jahns Ehren (1)
Freyburg, kaiserzeitlicher Protz-Jugendstil zu Turnvater Jahns Ehren

Im Städtchen Freyburg befindet sich das Jahn-Museum deshalb, weil Jahn nach seiner Freilassung aus Berlin in einen Ort ziehen musste, an dem weder eine Universität, noch ein Gymnasium bestanden. Er sollte nicht wieder die Jugend infiltrieren können. Dort war dann sein erstes Wohnhaus abgebrannt, womöglich inklusive Teilen eines Buches, das er über Dreißigjährigen Krieg geschrieben hatte oder schreiben wollte (und das, wenn es erhalten geblieben wäre, vielleicht den heute herrschenden Eindruck, er sei nicht gerade ein guter Schriftsteller gewesen, modifiziert hätte).

Im ersten deutschen Parlament in der Frankfurter Paulskirche 1848/ 49 spielte er als Alterspräsident eine Nebenrolle. Er soll Ärger mit den „roten Turnern von Hanau“ gehabt haben, die sich zwar in seiner Turn-Tradition sahen, aber enttäuscht waren, dass der alt gewordene „Turnvater“ einer rechten Fraktion angehörte, die statt der Republik ein erbliches Kaisertum wollte. Im September 1848 entging er wohl nur knapp einem mörderischen Tumult, weil er statt für eine Fortsetzung des Krieges um Schlewig-Holstein für den Waffenstillstand mit Dänemark gestimmt hatte. Gestorben ist er dann 1852 an einer Lungenentzündung, nachdem er einen Enkel vorm Ertrinken aus der Unstrut gerettet haben soll. Bald danach begann sein irrer Nachruhm.

Dass die ganze Ausstellung „eifrig darum bemüht ist, ihm ein patriotisches Denkmal zu errichten“ (so die schon oben verlinkte linke Webseite materialien-kritik.de), würde ich nicht sagen. Sie zeigt sicher eher schlicht biografisch als kritisch-materialistisch, aber doch differenziert Facetten einer schillernden Gestalt, die schon zu Lebzeiten gerne karikiert und verspottet wurde, von Heinrich Heine („… Der grobe Bettler Vater Jahn“) und Marx („Turnwüterich“) etwa, aber auch, weil sie sich anders zu kleiden pflegte als das damalige Establishment. Wer im Internet sucht, findet sogar ein paar Belege dafür, dass die Hippies von anno 1968 Jahn als „Stargammler“ gut gefunden haben sollen. Sich mit ihm und seinen Nachwirkungen zu beschäftigen, lohnt jedenfalls. Das spektakulärste Objekt des Museums ist übrigens das Ur-Pferd, also das erste Exemplar des Turngeräts „Pferd“. Seinen Namen erhielt es, weil im paramiltärischen Sinne daran der Kampf gegen Kavallerie geübt werden sollte.

Freyburg, Dicker Wilhelm (Bergfried der Neuenburg)

Eine deutlich spektakulärere Sehenswürdigkeit liegt oberhalb Freyburgs: ein hübsches Burg-Schloss aus viel früherer Vergangenheit, das allerdings dazu beiträgt, ohnehin nicht einfache geografische Unterscheidungen weiter zu verkomplizieren. Im heutigen Sachsen-Anhalt liegt Freyburg, weil es in dem Teil des vormaligen Sachsen lag, der 1815 (nachdem Sachsen am Ende der Napoleonszeit auf der Verliererseite gestanden hatte) preußisch wurde. Die Neuenburg, deren Bergfried „Dicker Wilhelm“ man weithin sieht, war dagegen neben der weiter westlich gelegenen Wartburg eine der beiden Hauptresidenzen der Landgrafschaft Thüringen. Deren große Zeit lag im 12. Jahrhundert; damals weilten frühe deutsche Dichter wie Heinrich von Veldeke und Walther von der Vogelweide dort und klagten zwar auch über betrunkene Ritter und deren Lärmen, lobten aber vor allem vor allem den „milten landgraven“, der sie schließlich auch bezahlte …

Freyburg, als die Neuenburg 'königl. pohlnisch' war (Neuenburg-Schlossmuseum)
Als Freyburg „königl. pohlnisch“ war…

Bald darauf hörte diese Landgrafschaft Thüringen endgültig auf zu bestehen. Fortan gehörte Freyburg zu Sachsen, das von anderswo regiert wurde, sodass die Neuenburg an Bedeutung verlor. Zeitweise war sie ein Lust- oder Jagdschloss für die Herrscher des Mini-Staats Sachsen-Weißenfels, zeitweise firmierte sie gar als „königl. pohlnisch Jagd-Schloss“ – als sächsische Kurfürsten wie August der Starke zugleich Könige von Polen waren und statt auf geografisch richtige Namen vor allem Wert darauf legten, überall jeweils mit ihrem schönsten Titel genannt zu werden.

Um gelinde Verwirrung anzustiften ist dieses Freyburg also ein ganz guter Ort. Zumal wenn im sonnigen Herbst auf den Weinbergen die Trauben geerntet werden.

Freyburg, Weinberg und Neuenburg

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